Auf ihrer Sitzung im Juni hat die europäische Zentralbank (EZB) ihren Leitzins (den Zinssatz für die Einlagefazilität) um 0,25 Prozentpunkte auf 2,0 Prozent gesenkt. Auch die anderen beiden Zinssätze der EZB wurden entsprechend des festgelegten Zinskorridors um je 0,25 Prozentpunkte gesenkt. Dies war die achte Zinssenkung in Folge. Die Entscheidung war spätestens nach den jüngsten Inflationsdaten nicht überraschend und wurde im Vorfeld nahezu vollständig von den Märkten antizipiert. Im Fokus der Marktteilnehmer standen daher der Pressebericht, die anschließende Pressekonferenz mit EZB-Präsidentin Christine Lagarde sowie die aktualisierten Projektionen der Zentralbank.

Insgesamt war die EZB in ihrer Kommunikation sehr darum bemüht, keine konkreten Einblicke in ihre zukünftige Zinspolitik zu geben. So betonte die Notenbank, dass sie ihrem datengetriebenen Ansatz treu bleiben und ihre Zinsentscheidungen von Sitzung zu Sitzung treffen werde. Die Notenbank ist mit der aktuellen Inflationsentwicklung jedoch insgesamt zufrieden und sieht sich mit einem aktuellen Zinswert von 2,0 % gut positioniert, um auf sämtliche Eventualitäten reagieren zu können.
Wie bereits in der letzten Sitzung des EZB-Rats nahmen auch im Juni die Themen Unsicherheit und Ungewissheit eine zentrale Rolle in der Kommunikation der EZB ein. Die entscheidende Rolle wird der ungewissen Entwicklung in der US-Außenpolitik zugeschrieben. Die EZB ist der Meinung, dass sich die konkrete Ausgestaltung der Zölle negativ auf die Konjunktur im Euroraum auswirken wird. Doch auch das ständige Hin und Her bei den Aussagen und Androhungen des US-Präsidenten wird Investitionsentscheidungen erschweren und die Konjunktur im Euroraum negativ belasten. US-Importzölle dürften tendenziell eher deflationär wirken.
Insgesamt geht die EZB davon aus, dass die Energiepreise niedrig bleiben und der Euro seine derzeitige Stärke behält.
Änderungen in den Projektionen
Nach ihrer Notenbanksitzung hat die EZB auch ihre aktualisierten Projektionen veröffentlicht. Offensichtlich belastet das gegenwärtig hohe Maß an Unsicherheit die Prognosegüte. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass Zentralbanken die Kommunikation mit der Öffentlichkeit üblicherweise auch gezielt als Politikinstrument einsetzen. Daher ist jegliche Form der Kommunikation einer Zentralbank ein wichtiger Faktor bei der Einordnung der aktuellen geldpolitischen Entwicklung.

Bei den Projektionen der EZB gab es lediglich geringfügige Anpassungen. Zwar erwartet die Notenbank, dass sich der Zollstreit negativ auf die Konjunktur im Euroraum auswirken wird, sie geht jedoch davon aus, dass dieser Effekt durch steigende Ausgaben für Rüstung und Infrastruktur aufgehoben wird. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer stärkeren Konjunktur im ersten Quartal wurde die Wachstumsprognose für das laufende Jahr daher unverändert gelassen. Aufgrund der Annahme eines starken Euros und niedriger Energiepreise hat die Zentralbank ihre Inflationsprognosen für das laufende sowie für das nächste Jahr um jeweils 0,3 Prozentpunkte nach unten revidiert. Die erwartete Kerninflationsrate wurde leicht nach oben korrigiert, was den deutlichen Einfluss der EZB-Erwartung geringerer Energiepreise unterstreicht.

Es ist wichtig zu betonen, dass es sich hierbei um das Basisszenario der EZB handelt. Dabei werden zwei wichtige Annahmen getroffen: Erstens, dass die EU keine nennenswerten Gegenzölle erhebt, und zweitens, dass die US-Zollpolitik insgesamt nicht zu einem Zusammenbrechen von globalen Wertschöpfungsketten führt. Die EZB ist dazu übergegangen, den Einfluss alternativer Entwicklungen auf die Projektionen mit der Öffentlichkeit zu teilen. Hierzu stellt die Notenbank auf ihrer Internetseite nun unterschiedliche Szenarien vor. So würde eine weitere Verschärfung der Handelsspannungen beispielsweise zu einer geringeren Inflation und einem geringeren Wachstum als im Basisszenario führen. Bei einer weiteren Verbesserung der Handelsbeziehungen dürften Wachstum und Inflation hingegen höher ausfallen.
Wie geht es weiter?
Alles in allem dürfte der Zinssenkungszyklus der EZB sich dem Ende zuneigen. Erschwert wird das weitere Vorgehen der EZB jedoch dadurch, dass eine gewisse Diskrepanz zwischen dem kurz- und dem mittelfristigen Inflationsausblick besteht. Kurzfristig wirken sich eine Verlangsamung des Lohnwachstums, fallende Energiepreise und ein starker Euro deflationär aus. Mittel- bis langfristig spricht jedoch vieles für tendenziell höhere Preise. Hier sind vor allem demografische Faktoren, steigende Ausgaben für Rüstung und Infrastruktur sowie ein voraussichtlich stärkeres Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr mit steigenden Reallöhnen zu nennen. Hinzu kommen erwartbare, preistreibende geostrategische Faktoren, die sich insbesondere aus einem Zurückfahren der Hyperglobalisierung und einer Neuausrichtung von Wertschöpfungsketten ergeben könnten.
Zur Diskrepanz kommt die Unsicherheit rund um den Handelsstreit hinzu, was die Situation weiter verkompliziert. Die US-Außenpolitik könnte sich auf unterschiedlichste Art und Weise und mit unterschiedlicher Intensität realisieren.
Akzeptiert die EU die US-Importzölle, dürften sich diese insgesamt deflationär auswirken. Erhebt die EU hingegen Gegenzölle, dürften auch hierzulande die Preise steigen. Ein weiterer ungewisser Faktor bleibt der Wechselkurs. Dessen weitere Entwicklung dürfte insbesondere von der zukünftigen US-Politik und dem Vertrauen der Märkte in die US-Währung abhängen. Sollte der Dollar weiter an Wert verlieren, würden Importe aus den USA günstiger werden, was eher für sinkende Preise im Euroraum sprechen würde. Sollte der US-Dollar jedoch wieder an Wert gewinnen, würden die Importpreise im Euroraum steigen, was wiederum preistreibend wirken dürfte. Insgesamt könnte ein Handelskrieg zwischen den USA und anderen großen Ländern wie China auch zu einem Zusammenbruch globaler Wertschöpfungsketten beitragen. Diese könnten unter Umständen nicht ohne Abstriche und nur zu höheren Kosten ersetzt werden. Darüber hinaus ist es denkbar, dass Warenströme nach Europa verlagert werden, sodass es hier zu einem vermehrten Güterangebot und sinkenden Preisen kommt.
Die EZB muss demnach eine nicht unwesentliche Abwägung treffen. Wenn sie die Zinsen zu tief senkt, könnte die Absprungbasis bei einem späteren Anstieg der Inflation unter Umständen sehr tief sein. Dann müsste sie die Zinsen deutlich mehr erhöhen. Senkt sie die Zinsen zu wenig, könnte dies die Konjunktur abwürgen und die Zinsen müssten anschließend deutlich aggressiver gesenkt werden.
Fazit
Angesichts der obigen Überlegungen scheint eine Positionierung des Leitzinses der EZB im neutralen Bereich das wahrscheinlichste Szenario zu sein. Insgesamt bleibt die wirtschaftliche und politische Lage mit enormer Unsicherheit verbunden. Die EZB dürfte daher nicht vorsorglich zu einer zu expansiven Geldpolitik übergehen. Zumal Leitzinssenkungen üblicherweise erst mit zeitlicher Verzögerung wirksam werden. Dies spricht ebenfalls für eine eher vorsichtige Herangehensweise bei weiteren Zinsentscheidungen. Darüber hinaus ist bereits die Entscheidung den Leitzins auf 2,0% zu senken nicht einstimmig erfolgt. Ein Ratsmitglied stimmte dagegen.
Gegeben der aktuellen Entwicklungen bleiben wir bei unserer Erwartung, dass die EZB im weiteren Jahresverlauf nach der Sommerpause noch eine weitere Zinssenkung vornehmen wird, sodass der Leitzins Ende 2025 bei 1,75 % liegen wird.