Notenbanken: Wo liegt der neutrale Zins?

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Der rasante Anstieg der Inflationsraten veranlasste die Notenbanken zu Jahresbeginn zu einer Änderung ihrer geldpolitischen Strategie. Die Anleihekäufe wurden eingestellt und erste Leitzinsanhebungen vorgenommen. Gegenwärtig läuft die „Normalisierung“ der Geldpolitik.

Wie sieht eine „normale“ Geldpolitik aus?
Das bedeutendste Instrument der Notenbanken ist der Leitzins. Dieser soll in einer normalen konjunkturellen Situation die wirtschaftlichen Aktivitäten nicht tangieren. Der Leitzins soll „neutral“ sein. Er ermöglicht idealerweise die Erreichung des Inflationsziels bei einer Vollauslastung der Wirtschaft. Liegt der Leitzins über dem neutralen Niveau, dämpft er die wirtschaftlichen Aktivitäten und den Preisauftrieb. Liegt er unter dem neutralen Niveau, hat er eine expansive Wirkung auf das Wirtschaftsgeschehen und treibt tendenziell die Verbraucherpreise.
In den Jahren vor der Pandemie bewegten sich die Inflationsraten häufig unter den Zielwerten der Notenbanken von 2%. Diese senkten folgerichtig die Leitzinsen, stützten damit die Konjunktur und verhalfen nebenbei den Staaten zu einer sehr günstigen Finanzierung ihrer Schulden. Offizielles Ziel der extrem niedrigen Leitzinsen war die Rückführung der Inflationsraten auf den Zielwert.

Der neutrale Zins ist nicht messbar
Der neutrale Zins hat einen großen Nachteil. Er ist nicht zu messen, sondern lässt sich lediglich schätzen. Zudem ist er nicht in allen Volkswirtschaften gleich. Die Ungleichheit beruht vor allem auf dem unterschiedlichen Trendwachstum des Bruttoinlandsprodukts. Dieses ist in den USA höher als in Europa.
Der neutrale Zins fällt seit Jahrzehnten. Ursächlich dafür ist u. a. die „Ersparnisschwemme“. Im Zuge der demografischen Alterung wurde immer mehr Geld für die Zeit nach dem Erwerbsleben zurückgelegt. Die Ersparnis nahm zu, der Zins sank. Gleichzeitig führte das abnehmende Produktivitätswachstum zu einer geringeren Kreditnachfrage, weil weniger investiert wurde.
Wo liegt der neutrale Zins?
Die US-Notenbank verortet den neutralen Zins in den USA nach Aussagen ihres Präsidenten „irgendwo zwischen 2% und 3%“. In Europa wird er allgemein zwischen 1% und 1,5% gesehen, wobei die Tendenz zum oberen Rand der Spanne geht. Bleiben die Leitzinsen also innerhalb der Bandbreiten, beeinflussen sie die wirtschaftliche Aktivität nicht.
Hebt die US-Notenbank die Federal Funds Rate jedoch über die Marke von 3%, so dämpft sie damit die amerikanische Konjunktur. Der Leitzins wirkt restriktiv.
Die Europäische Zentralbank könnte den Hauptrefinanzierungssatz dementsprechend bis 1,50% anheben, ohne dass er eine konjunkturelle Bremswirkung entfaltet.
Wie weit gehen die Notenbanken?

Die jüngsten Projektionen der US-Notenbank („Dot plots“) weisen eine Federal Funds Rate von 3,25% bis 3,50% noch in diesem Jahr auf. Die US-Geldpolitik wird nach Einschätzung des US-Offenmarktausschusses also restriktiv, sie wird die US-Konjunktur dämpfen. Im nächsten Jahr liegt die avisierte Leitzinsspanne sogar bei 3,75% bis 4,00%. Mit anderen Worten: Die US-Notenbank ist bereit, bei der Bekämpfung der ausufernden Inflationsraten eine Rezession in Kauf zu nehmen.
Von der Europäischen Zentralbank gibt es keine vergleichbaren Projektionen. Gleichwohl dürfte auch sie bereit sein, den Leitzins in den restriktiven Bereich zu führen, falls es keine klaren Anzeichen für deutlich rückläufige Inflationsraten gibt.
Fazit: Die Notenbanken werden die Leitzinsen deutlich anheben. Sie dürften dabei sogar über den neutralen Bereich hinausgehen.